Anne Habermehl

Anne Habermehl

 

Alle meinen Figuren teilen das Gefühl vereinzelt in einem Menschenverband zu sein. Ich will wissen, woher das kommt! Und was davon mit einem gesellschaftlichen Umfeld, und was mit dem Mensch an sich zu tun hat. Dabei auch in die Geschichte zu reisen, hat nichts mit Vergangenheit zu tun, sondern mit einer Auflösung und Wiederholbarkeit von Zeit. Ich kann Dinge zu Hilfe nehmen, die bereits besser analysiert sind. Theater ist für mich ein Ort, wo für eine kurze Zeit tatsächlich eine Utopie im Denken, Probieren und Machen möglich ist.

Fabulamundi involved Anne Habermehl in activities in Turin and in Rome.

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Anne Habermehl (geb. 1981 in Heilbronn), studierte von 2004 bis 2008 Studium Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Ihre Stücke wurden u.a. am Thalia Theater Hamburg, am Bayerischen Staatsschauspiel München und am Schauspielhaus Wien aufgeführt. 2008 Teilnehmerin des Dramatikerworkshops des Theatertreffens Berlin und Preisträgerin des Werkauftrages. Ihr Stück „Letztes Territorium“ wurde 2008 außerdem zu den Autorentheatertagen Hamburg eingeladen, und 2009 zum Festival „Radikal jung“. Sie erhielt Stipendien des Autorenlabors am Düsseldorfer Schauspielhaus und des Obrador d’Estiu Sala Beckett in Barcelona. Die Uraufführungsinszenierungen von „Narbengelände“ und „Luft aus Stein“, beide in eigener Regie, wurden zu den Autorentheatertagen 2011 und 2013 am Deutschen Theater Berlin eingeladen. Anne Habermehl lebt in Berlin.

Theaterstücke
2013 / Luft aus Stein; UA: Januar 2013, Schauspielhaus Wien
2010 / Narbengelände; UA: Oktober 2010, Theater Gera/ Altenburg
2009 / Daddy; UA: Juli 2009, Bayerisches Staatsschauspiel München
2009 / Küß mich hinter Karstadt; UA: 2009, Theater Chemnitz
2008 / Letztes Territorium; UA: November 2008, Thalia Theater Hamburg

Luft aus Stein 
– Zusammenfassung des ausgewählten Stücks zum Thema „The dangerous opportunity“ –Ruth, geboren 1922, Hanna, geboren 1943, Paula, geboren 1980 – drei Frauen, deren Biographien unterschiedlicher kaum sein könnten und zugleich untrennbar miteinander verbunden sind. Ruth erlebt den Schrecken des Zweiten Weltkriegs, in dem sie bei einem Bombenangriff Anton, ihren neugeborenen Sohn, verliert. Ihre Tochter Hanna wird später vergeblich versuchen, Ruths Schweigen über die Ereignisse von damals zu durchbrechen, während Hannas eigene Kinder, Paula und Anton, in einer wesentlich freieren Gesellschaft aufwachsen, die jedoch mit ihrer Forderung nach globalem Denken und großer Flexibilität neuartige Probleme schafft. Dass Paula und Anton eine inzestuöse Liebesbeziehung verbindet, als wollten sie so einer überkomplexen Welt entfliehen, erfährt Hanna erst nach Antons Versuch, sich und seine Schwester umzubringen. Plötzlich spiegelt sich die kollektive Sprachlosigkeit nach 1945 in dem Unvermögen des Einzelnen, über das Hier und Jetzt zu reden, auch wenn sich die äußeren Bedingungen grundlegend verändert haben.

2 Damen / 2 Herren

– Auszug aus dem ausgewählten Stück Luft aus Stein –

1963

Ruth Was soll ich mit deinem Zimmer machen?
Hanna Ist mir egal. Stell Bücher rein. Deine Nähmaschine. Ein Klavier. Was weiß ich.
Ruth Siehst du hier irgendwo ein Klavier?
Hanna Kauf dir eins.
Ruth Ich habe seit zwanzig Jahren nicht mehr Klavier gespielt.
Hanna Du kannst ja wieder damit anfangen.
Ruth Und wer soll es mir beibringen?
Hanna Meine Güte.
Ruth Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun soll.
Hanna Ich kann das nicht mehr.
Ruth Was?
Hanna Mich immer um deinen Dreck kümmern.
Ruth Bleib.
Hanna Nein.
Moment
Ruth Ich gehe auch weg. Was soll ich hier, ohne dich.
Hanna Du wohnst hier.
Ruth Alles Zufall. Wären wir nicht zufällig dort gewesen, um diese Uhrzeit, an diesem Bahnhof, wären wir nicht hier. Und hätte ich mich, zufällig, dafür entschieden, einfach in die andere Richtung zu fahren: Wir wären nicht hier. Also kann ich auch aus Zufall woandershin gehen.
Hanna Jeder gehört irgendwohin.
Ruth Das ist Nazimüll.
Hanna Nazimüll? Ein Zuhause zu wollen?
Ruth Orte sind Namen auf einer Landkarte. Sonst nichts. Wir gehören nirgendwohin. Nicht in eine Zeit. Nicht in eine Welt. Nicht in ein Alter. Nicht in einen Körper. Nicht in einen Sinn. Wir fallen vom Himmel ins Nichts. Wir fallen in diese Welt wie ein Schluck Wasser. Und dann torkeln wir an den Rändern dieser Welt entlang.
Hanna Glaubst du, es gibt einen Gott?
Ruth Oh bitte.
Hanna Du glaubst nicht, dass es einen Gott gibt, oder? Du glaubst an überhaupt nichts. Nichts.
Ruth Doch.
Hanna Und an was?
Ruth An die Kinder. An die glaube ich.
Hanna Und was willst du ihnen geben?
Ruth –
Hanna Du willst Kindern beibringen, das Leben zu lieben. Was willst du ihnen geben?
Ruth Ich, ich weiß es nicht. Sie sind so klein. So zart. Sie haben nichts Schlimmes gesehen. Oder getan. Sie lachen wie, wie, sie brechen mir das Herz, wenn sie lachen. Ich will, dass das so bleibt. Ich will, dass sie nichts Schlimmes sehen. Dass sie nicht aufhören zu lachen.
Hanna Ich werde auch Kinder haben. Und ich werde sie beschützen.
Ruth Du bist böse.
Hanna Nein.
Ruth Doch.
Hanna Du hast mir nichts beigebracht. Nur Panik.
Moment
Ruth Komm. Wir tanzen.
Hanna Ich will jetzt nicht tanzen.
Ruth Ein Mal. Bitte. Zum Abschied.
Hanna –
Ruth Die Hüften. Die sind von deinem Vater.
Hanna –
Ruth Ich wollte ihn nicht mehr haben. Als er zurückkam. Er war wie ein Stein. Ein Stein voll mit Blut. Unsichtbarem Blut.
Hanna –
Ruth Und er hat gesungen. Den ganzen Tag.
„Die Sonne dünkt mich hier so kalt
Die Blüte welk, das Leben alt.
Und was sie reden, leerer Schall.
Ich bin ein Fremdling überall.“
Dieser ganze romantische Schwachsinn.
Kein Mensch kann mit einem Stein leben. Ich hab ihn vor die Tür gesetzt. Diesen singenden Stein. Diesen Stein mit Blut.
Stille
Hanna Wo ist mein Bruder?
Ich hatte einen Bruder.
Wo ist er?
Ruth –
Hanna Er muss doch irgendwo begraben sein.
Ruth Nein.
Hanna Warum?
Ruth –
Hanna Er fehlt mir. Ich suche die ganze Zeit nach ihm. Ich suche die ganze Zeit nach jemandem, den ich nicht kenne. Mir fehlt etwas, wie ein Stück von meinem Körper. Die ganze Zeit. Weißt du, wie das ist?
Ruth Es gibt kein Grab. Da war nur Zucker.
Hanna Zucker?
Ruth Der Zucker ist geschmolzen. So heiß war es.
Wir sind gelaufen, auf einer Straße aus Zucker. Zuckersüß und weiß. Da war überall geschmolzener Zucker. Auf meinen Fingern. Meinen Lippen. Meiner Zunge.
Hanna Hör auf, Scheiße zu erzählen.
Ruth –
Hanna Du hast sein Foto gefressen. Das Foto meines toten Bruders. Wie Brot. Ich habs gesehn. Du denkst, ich erinnere mich nicht. Aber ich tus.
Stille
Ruth Ich will, dass du glücklich wirst.
Hanna So wie du?
Ruth Du verachtest mich. Würde ich an deiner Stelle auch.
Hanna Ich verachte dich nicht.
Du bist, wie du bist.
Ruth Ich will meine Ruhe. Auch vor deinen Fragen.
Hanna Ich will so nicht leben, Mama, verstehst du das nicht?
Wir sind wie Vögel, die sich selbst die Flügel abgeschnitten haben
Blut läuft aus Ruths Nase

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