Mein Schreiben ist Reaktion, ist ein Spiel mit Finten mit der sogenannten Realität, wie sie uns mächtig entgegentritt – mich interessiert, wie unsere Welt funktioniert und wie manche daran beteiligt oder eben nicht beteiligt werden, wie wir alle uns durch Sprache beherrschen lassen, führen, leiten, erfinden. Ökonomie, Arbeit und Ausnahmezustand sehe ich als zentrale thematische Motoren in diesem Prozess. Mich fasziniert die Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Gesprächspartnern in der Recherche, und mich interessiert der theatrale Raum, der wie ein notwendiger Anachronismus der Präsenz erscheint, obwohl die Szene längst zerrissen, geöffnet und vom Abwesenden verdreht ist.
Fabulamundi involved Kathrin Röggla in activities in Milan and in Rome.
Kathrin Röggla (1971, Salzburg) lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie veröffentlichte viele Bände an Prosa, zuletzt „die alarmbereiten“ (S.Fischer, 2010), Essays („besser wäre: keine“, S.Fischer, 2013) Hörspiele und Theatertexte („Kinderkriegen“, UA Residenztheater München, 2012). Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie zuletzt mit dem Nestroy Preis für das beste Stück (2010), dem Franz-Hessel-Preis (2010) und mit dem Arthur-Schnitzler-Preis (2012) ausgezeichnet. Im selben Jahr hat sie in ihrer Funktion als Stadtschreiberin von Mainz den Dokumentarfilm „Die bewegliche Zukunft – eine Reise ins Risikomanagement“ (ZDF) gedreht. Sie ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin.
Theaterstücke
2012 / Kinderkriegen; UA: Residenztheater München
2011 / NICHT HIER oder die kunst zurückzukehren; UA: Staatstheater Kassel
2011 / die unvermeidlichen; UA: Nationaltheater Mannheim
2010 / machthaber; UA: Schauspielhaus Wien
2009 / die beteiligten; UA: Düsseldorfer Schauspielhaus
2008 / worst case; UA: Theater Freiburg
2008 / plan b; minidrama für das Festival „ohne alles 2“; UA: Schauspielhaus Bochum
2008 / publikumsberatung; UA: Theater am Neumarkt
2005 / draußen tobt die dunkelziffer; UA: Festwochen Wien/Volkstheater Wien
2004 / junk space; UA: Neumarkttheater Zürich/Steirischer Herbst Graz
2004 / wir schlafen nicht; UA: Düsseldorfer Schauspielhaus
2004 / sie haben soviel liebe gegeben, herr kinski! eine wiederbelebung von Kathrin Röggla nach einer Idee von Leopold von Verschuer; UA: Pumpenhaus Münster
2003 / totficken. totalgespenst. Topfit, Einakter (Hommage an Werner Schwab); UA: Burgtheater Wien
2003 / superspreader, monolog; UA: Düsseldorfer Schauspielhaus, Aachen
2002 / fake reports; UA: Wiener Volkstheater/Steirischer Herbst Wien
Worst Case
Worst Case handelt von der Katastrophengrammatik, die unser Leben heute beherrscht, den realen, den fiktiven, den fingierten, medialen und den produzierten, sowie unserem Umgang damit. Während im ersten Teil ein fünfköpfiges Katastrophenteam sich auf Katastrophentourismus begibt und nach und nach ins reale Geschehen einer multidimensionalen Naturkatastrophe verwickelt wird, vollzieht im zweiten Teil eine Alarmbereite am Telefon mit einer modernen Kassandra die sich entwickelnden Klimawandelkatastrophe mit. Nach einem kurzen Zwischenspiel findet ein Elternabend ab, der den Gefahren einer von einem kindlichen Superspreader ausgelösten Epidemie Herr werden möchte. Am Schluss treffen in einem postapokalyptischen Studio-Setting vier Experten aufeinander, die in einer moderaten Radiosendung ihre sprachlichen Überreste des Entsetzens und der Beruhigung präsentieren, bis auch diese verstummen und die Technik übernimmt.
Worst Case zeigt durch die merkwürdig gekrümmte Erzählform die Unmöglichkeit einer adäquaten menschlichen Reaktion auf das immer zu groß ausfallende Geschehen der heute omnipräsenten Katastrophenerzählungen (Klimawandel, Finanzkrise, Terrorismusbedrohung), die manchmal aus politischem Kalkül Ängste schüren, aber hauptsächlich immer wieder erzählt, dass Handeln eigentlich nicht mehr möglich ist.
Figuren
1. Teil: die zuseher: der viereckige, der beflissene, die expertin, die piepsstimme, (ich)
2. Teil: die alarmbereite: kassandrasekretärin, (ich)
zwischenspiel: kassandrafan, (ich)
3. Teil: die erwachsenen: elternbeiratsvorsitzende, schulpsychologe, sowie eltern als stumme zuhörer, (ich)
4. Teil: die angehörigen: moderator, moderatorin, finanzexperte, bürgeranwältin, technikerin und techniker (d.h. einspringer für technik, zugeschaltete)
– Auszug aus dem ausgewählten Stück Worst case –
die kassandrasekretärin: ich bräuchte jetzt nicht in den hörer zu brüllen. ob ich wisse, dass man mit ihr auch ganz ruhig sprechen könne, und dass mit ihrem gehör alles in ordnung sei. also sie werde die nerven nicht verlieren, nur, weil ich sie anscheinend verloren habe, das könne sie mir verraten. denn das sei es doch, worauf ich aus sei. ich käme mit meiner panik hier jetzt quasi telefonisch bei ihr reingeschneit und sei doch nur darauf aus, sie in panik zu versetzen. sie aber werde jetzt dicht machen, die schotten praktisch dicht machen, sie werde sich das jetzt nicht mehr antun.
überhaupt: der ständige alarm habe ja zur folge, dass mir niemand mehr zuhören wolle. ob ich das wisse, dass ich die dosis runterschrauben müsse von zeit zu zeit, die alarmdosis, damit sie noch eine wirkung zeige? aber das wisse ich wohl nicht. die ständige überdosierung habe jedenfalls zur folge, dass ich nur sinkende alarmbereitschaften, sinkende reaktionsbereitschaften erhalte.
*
nein, ich bräuchte mich jetzt nicht zu beschweren! habe sie nicht alles freiwillig mitgemacht? sei sie mir nicht in jedes szenario gefolgt, das ich erstellt hätte? all die bse-hysterien, asbestängste, feinstofflichen ängste, alzheimerahnungen, vogelgrippenmahnungen, handystrahlenängste, die der klimageschichte vorausgegangen seien. ich werde mich doch daran erinnern, die seien doch alle von mir gekommen!
ich würde doch an klimakatastrophen glauben, lange bevor sie stattfänden.
ob ich mich an die 80er-jahre erinnern könne? die 80er-jahre mit ihrer 80er-jahre-weltuntergangsbesessenheit? sie erinnere sich nämlich nicht mehr, habe sie sich sagen lassen, denn sonst würde sie sich ja wohl an den typischen 80er-jahre-weltuntergangswahnsinn erinnern und könne das weltuntergangsrauschen in meiner stimme als spezifisches 80er-jahre-retro-ding entschlüsseln.
doch auch aus den 80ern sei man rausgekommen, habe sie sich sagen lassen, letztendlich, zwar ganz schön durchgebeutelt, aber immerhin.
fest stehe doch: der ständige alarm habe zur folge, dass die reaktionsbereitschaft sinke, ja, mittlerweile gegen null gesunken sei. meine alarmblicke, die nach alarmbereitschaft fahndeten, liefen allesamt ins leere, es habe sich sozuagen ausalarmiert.
*
man solle mich kassandra nennen, habe sie das schon gesagt? und zwar eine doppelte kassandra, keine einbahnstraßenkassandra, nein, eine kassandra, die in beide richtungen geht. denn weder höre man mir zu, noch hörte ich zu. aber vielleicht sei das auch bei der originalkassandra schon so gewesen, denn irgendeinen grund müsse es doch gegeben haben, dass ein gott sie verflucht habe oder so, denn sonst würde es mit ihr sicher nicht so gelaufen sein.
ob noch niemand auf die idee gekommen sei, mich kassandra zu taufen? also sie habe mich längst so getauft, so innerlich, äußerlich rufe sie mich natürlich bei meinem namen, aber innerlich stünde ich fest als kassandra. und sie glaube auch, dass mich die anderen insgeheim so nennten – sie meine, die ähnlichkeiten seien verblüffend, und wenn ich nicht aufpasste, komme es bald zu einem kassandra-ende, und das sei kein gutes ende, könne sie mir verraten.
aber wenn sie es sich so recht überlege, sei ich nicht nur eine doppelte kassandra, ich sei auch eine gefakte, denn diese prophezeiungen stammten nicht einmal von mir, die seien nicht aus der luft gegriffen, als eine art göttliche schau, also in anhörung der götter. meine visionen seien zudem nicht das neueste, was auf dem markt zu haben sei, sie seien abgekupfert – ja, ich hätte so meine quellen, auch wenn ich die nicht immer sofort bekannt gäbe. aber letztendlich sei das auch egal. d.h. ihr sei es immer egal gewesen, denn sie habe sich privilegiert gefühlt, dass ich mich an sie gewandt hätte. sie habe sich sozusagen für meine erste gesprächspartnerin gehalten, einzige vertraute, die sich mitreißen lasse von meinen prognosen. doch wie sie sich getäuscht habe, habe sie erst nach einiger zeit erfahren, als sie von den anderen gehört habe.